Zur Erinnerung
Prof. em. Dr. habil.
Paul Grimm


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Zitat aus:
Zeitschrift für Archäologie, Heft 28, Seite 145—147, Berlin 1994

Nachruf

PAUL GRIMM 1907 - 1993

Am 19. November 1993 verstarb in Berlin der Nestor der mittel- und ostdeutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung, Prof. (em.) Dr. habil. Paul Grimm. Mit ihm verliert die deutsche Archäologie, insbesondere die Mittelalter- und Burgenforschung, eine ihrer herausragenden und prägenden Persönlichkeiten.

Geboren am 18. August 1907 in Torgau an der Elbe, verbrachte er seine Kindheit und Jugend in Aschersleben, wo er 1925 mit Auszeichnung das Abitur ablegte. Anschließend studierte er in Halle Vorgeschichte, Geschichte, Geographie und Geologie und promovierte bereits 1929 mit einer Dissertation über "Die vor- und frühgeschichtliche Besiedlung des Unterharzes und seines Vorlandes auf Grund der Bodenfunde". Diese Arbeit bildet einen Markstein in der siedlungsarchäologischen Erforschung Paul GrimmMitteldeutschlands. Mit einer stark siedlungsräumlichen Betrachtungsweise – er war u.a. Schüler des bedeutenden Geographen Otto Schlüter gewesen – hat er schon damals intensiv die Verbindung zu den Naturwissenschaften gesucht, aber auch beispielsweise die Beziehungen zwischen Archäologie und Ortsnamenforschung verfolgt. Dieser breite Ansatz sollte auch künftig seine Arbeitsweise bestimmen.

Sofort nach dem Studium wurde Paul Grimm am heutigen Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle angestellt, zunächst als wissenschaftlicher Assistent, ab 1935 als Kustos und Stellvertreter des Direktors. Die überaus fruchtbaren Jahre dort waren neben der bodendenkmalpflegerischen Arbeit hauptsächlich der Neolithforschung gewidmet. 1939 habilitierte er sich mit der Arbeit über „Die Salzmünder Kultur in Mitteldeutschland”, deren Name ebenso wie der der Baalberger Kultur von P. Grimm stammt und noch heute gebräuchlich ist. Ein Artikel "Zur inneren Gliederung der mitteldeutschen Jungsteinzeit" zog 1940 ein Fazit und bildete gleichzeitig den Abschluß dieser Bemühungen.

Gleichfalls schon vor dem Krieg wurden die Grundlagen für den zweiten Schwerpunkt gelegt, der Paul Grimm bis zuletzt beschäftigen sollte: die archäologische Erforschung des Mittelalters und hier insbesondere der Burgen. Nachdem die Wüstungsforschung heute eine unbestrittene Aufgabe der Archäologie ist, läßt sich kaum mehr ermessen, was 1935 bis 1937 die Aufdeckung und Publikation der Wüstung Hohenrode im Unterharz bedeutete, war es doch die erste großflächige Ausgrabung eines mittelalterlichen Dorfes in Mitteleuropa überhaupt. P. Grimm ist deshalb zu Recht als einer der Gründungsväter der Archäologie des Mittelalters bezeichnet worden, dem auch die in ihren Grundzügen bis heute gültige erste Gliederung der mittelalterlichen Keramik des Elbe-Saale-Gebietes verdankt wird.

Der Krieg brachte für Paul Grimm wie für viele andere eine Unterbrechung der wissenschaftlichen Arbeit. Daß er gleichzeitig eine Zeit höchster menschlicher Bewährung war, konnte in dieser Deutlichkeit in der DDR praktisch nicht ausgesprochen werden, war doch Paul Grimm 1941 von der deutschen Besatzungsmacht eingesetzt worden, um in Kiev ein „Museum für Alte Geschichte” zu gründen. Lediglich an entlegener Stelle ist darüber ein Dokument veröffentlicht worden, das die näheren Umstände deutlich macht. In den „Informationen für die Museen in der DDR” 2/1989, S. 63-66, haben seine ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter L. Silina, E. Pokrowska und E. Machno die damaligen Verhältnisse geschildert. Es erscheint an der Zeit, die von ihnen dargestellten Vorgänge einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, weshalb Auszüge aus der Publikation hier wiedergegeben seien:

„In der Sevenko-Straße (wurde) auf Befehl der Faschisten die wertvolle Kartothek des Instituts für Sprachwissenschaft ...aus dem Fenster geworfen. ... Dieses Schicksal stand auch dem Fundmaterial des Instituts für Archäologie bevor. Die Mitarbeiter, welche zu diesem Zeitpunkt noch in Kiev waren, retteten es jedoch. Hungrig und erschöpft trugen sie alles auf ihren Schultern an einen sicheren Ort, aus dem vierten Stockwerk eines Hauses in das fünfte eines anderen. Aber was dann? Als Perspektive schien sowohl der Hungertod als auch ,mit dem Tode bestraft' durchaus real.

Und plötzlich kam die Rettung ... Die ehemaligen Mitarbeiter des Instituts für Archäologie sowie des Historischen Museums wurden, ohne jegliche Ausnahme, durch den jungen Archäologen Paul Grimm zur Arbeit eingestellt.

Unter anderen Mitarbeitern fanden hier auch eine Teilnehmerin am Bürgerkrieg und Rotarmistin, ein aus der Gefangenschaft geflohenes Mitglied der Kommunistischen Partei, ferner der Sekretär der Komsomolorganisation des Instituts für Archäologie ihren Unterschlupf.

Obwohl nicht alle erforderlichen Papiere dieser Personen vom Standpunkt der faschistischen Behörden aus richtig ausgefüllt waren, sah Paul Grimm davon ab, sie mit den übergeordneten Stellen zu überprüfen und nahm die ganze Verantwortung auf sich.

Die Aufgabe von Paul Grimm bestand darin, in Kiev auf der Basis des einheimischen Materials ein Museum für Alte Geschichte zu gründen.

... Ungeachtet des sehr strengen Winters, ungeachtet dessen, daß die hungrigen Mitarbeiter in ungeheizten Räumen, einer schrecklichen Zugluft ausgesetzt, arbeiteten, wurden die Arbeiten so organisiert, daß ... das gesamte archäologische Fundmaterial von Kiev innerhalb einer kurzen Zeit im Gebäude des heutigen „Haus des Lehrers” zusammengefaßt wurde.

... Ungeachtet der menschenfeindlichen offiziellen Einstellung des faschistischen Deutschland, ja, im Gegensatz dazu, herrschte im Kollektiv des Museums ein Geist der gegenseitigen Achtung und Hilfe, der Geist eines tiefempfundenen Humanismus, welcher Paul Grimm nicht nur einfach eigen war, sondern sein Wesen ausmachte. So hat Paul Grimm, im Gegensatz zu den offiziellen Anordnungen, die einheimischen Spezialisten mit Arbeit versehen und die notwendige Anzahl aus den Reihen der privilegierten Schicht der ,Volksdeutschen` nicht angestellt.

Gemäß den damals herrschenden Vorschriften hatte der Leiter das Recht, selbständig, ohne jedwelche Absprachen, denjenigen, welche gute Arbeit leisteten, das Gehalt um 10 % zu erhöhen. Diese Entlohnung erhielten ausnahmslos alle Mitarbeiter. ... Mitarbeiter, welche in Not gerieten, konnten jederzeit auf die Unterstützung von Paul Grimm rechnen. Er hat sogar einen, wenn auch erfolglosen Versuch unternommen, dem von der Gestapo verhafteten Parteimitlied M.V. Kuznecov zu helfen, welcher von der Gestapo nicht mehr zurückgekehrt ist.”

Im Herbst wechselte die Leitung des Museums. „Der Unterschied zwischen d(ies)en zwei Leitern war sehr ausgeprägt. Dem Mitarbeiterkollektiv wurde noch deutlicher, daß Paul Grimm den Teil der deutschen Nation verkörpert, der ihr Ehre macht.” Dem ist wohl nichts hinzuzufügen.

Bis Anfang 1950 in Buchenwald interniert, arbeitete Paul Grimm zunächst freiberuflich in Halle und Bitterfeld, ehe er am 1.1.1951 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Kommission (das spätere Institut) für Vor- und Frühgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin berufen wurde. Der von W. Unverzagt geleitete Aufbau eines leistungsfähigen Institutes, das sich schnell eines hohen internationalen Ansehens erfreute, ist zu wesentlichen Teilen Paul Grimms organisatorischen Fähigkeiten, vor allem aber seinen überragenden wissenschaftlichen Leistungen zuzuschreiben. Sie galten vor allem der Pfalzen- und Burgenforschung, ihren wichtigsten Ertrag bildeten neben einer Vielzahl von Aufsätzen die drei Monographien „Die vor-und frühgeschichtlichen Burgwälle der Bezirke Halle und Magdeburg” (1958), „Tilleda I” (1968) und „Tilleda II” (1990), die heute zu den Standardwerken gehören.

In Tilleda gelang es Paul Grimm erstmals, eine deutsche Königspfalz, bestehend aus Haupt- und Vorburg, nahezu vollständig auszugraben. Als exzellenter Ausgräber hat er auch hier neue Maßstäbe gesetzt, viele Studenten und Absolventen haben in Tilleda gearbeitet und daraus bleibenden Nutzen gezogen.

Neben die praktische Tätigkeit trat früh die als Hochschullehrer. 1939 in Halle habilitiert, hat Paul Grimm zunächst dort, später in Berlin erst als Lehrbeauftragter und seit 1955 als Professor Vorlesungen und Übungen gehalten. Daneben hat er eine ganze Generation von Archäologen im östlichen Deutschland geprägt. Sein Umgang mit den Quellen und seine Begeisterung haben viele Jüngere stark beeindruckt und sind für ihren Lebensweg entscheidend geworden. Wesentlich dazu beigetragen hat sein Bemühen, das archäologische Material immer, auch bei scheinbar geringfügigen Beobachtungen, als Geschichtsquelle zu begreifen und in größere historische Zusammenhänge zu stellen. Das zeigt vielfach schon die Formulierung seiner Aufsatztitel wie „Die Reichsburg Volkenrode bei Mühlhausen (Thür.). Ein Beitrag zur Frage des Einbaues von Klöstern in Burgen”.

Natürlich hat es in Paul Grimms reichem wissenschaftlichem Leben nicht an Auszeichnungen und Mitgliedschaften gefehlt. So war er u. a. Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Ordentliches Mitglied des Deutschen Archäologischen Institutes und Auswärtiges Mitglied der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ur- und Frühgeschichte. 1992 wurde er zum ersten Ehrenmitglied des neu gegründeten Mittel- und Ostdeutschen Verbandes für Altertumsforschung gewählt.

Mit Paul Grimm ist ein großer Gelehrter und ein bescheidener, liebenswürdiger und hilfsbereiter Mensch von uns gegangen. Alle, die ihn gekannt haben, werden nicht nur den Wissenschaftler, sondern vor allem auch den Menschen in dankbarer Erinnerung behalten.


Eike Gringmuth-Dallmer, Berlin